AVWS als mögliche Ursache für die Lese-/ Rechtschreibschwäche

Dr. med. Matthias Weikert, Dr. phil. Alfred Leurpendeur

Auditive Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörungen (AVWS) als mögliche Ursache für die Lese-/ Rechtschreibschwäche

1. Einleitung

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Verfolgt man man die medizinischen, insbesondere die pädaudiologischen und kinderpsychiatrischen Fachzeitschriften, dann drängt sich der Verdacht auf, dass Wahrnehmungs- und Aufmerksamkeitsstörungen der nachwachsenden Generation zum Problem geworden sind; möglicherweise in Form von Kommunikationsstörungen, in denen sich gesellschaftliche Schwachpunkte widerspiegeln? Eine nicht geringe Zahl von Kindern „verweigert“ sich in der Schule ebenso wie in der Familie oder in der Freizeitgestaltung. Dieses Phänomen imponiert zunächst als ADHS [Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitäts-Syndrom]. Hinter dieser Bezeichnung stehen einerseits medizinische Probleme und andererseits familiäre Tragödien. Ein Sonderfall ist die sogenannte „Auditive Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörung“ (AVWS), durch die besonders der Schulerfolg scheitert. Oft kann sie Vorbote einer Lese-/ Rechtschreibstörung sein! Deswegen ist es wichtig, diese Störung im Kindes- uns Schulalter früh zu erkennen und wenn möglich gezielt zu therapieren.

2. Was bedeutet AVWS?

Die Auditiven Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörungen (AVWS) gliedern sich in Störungen der Verarbeitung akustischer Informationen und in solche ihrer Wahrnehmung, insbesondere von Sprachinhalten: sh. Konsensuspapier (2000) von HNO-Ärzten, Pädaudiologen, Kinderärzten, Kinder- und Jugenendpsychiatern, Pädagogen, Psychologen und Logopäden (Ptok, M.: „Konsensus-Statment“ in HNO 48 (357). Folgende Funktionen der zentralen Hörwahrnehmung können dabei beeinträchtigt sein:

  1. Das Richtungshören:
    die betroffenen Kinder finden die Richtung der Schallquelle nicht (hören nicht ihren laut gerufenen Namen im Umgebungslärm; können sprachliche Mitteilungen von Klassenkameraden/Lehrern im Schulunterricht nicht orten).
  2. Die Trennung von Nutz- und Störschall
    Normalerweise werden inhaltstragende Muster (Nutzschall) an das Bewusstsein weitergeleitet, bedeutungsleere Muster (Störschall) werden ignoriert bzw. unterdrückt. Kinder, die das von ihrer zentral-auditiven Leistung her nicht können, hören bspw. Störgeräusche im Unterricht gleich laut wie die Lehrerstimme.
  3. Das dichotische Sprachverstehen
    Kinder mit AVWS haben Probleme, verschiedene, auf beiden Ohren gleichzeitig dargebotene Wörter nachzusprechen. Damit ist die sogenannte geteilte Aufmerksamkeit
    beeinträchtigt.
  4. Die auditive Aufmerksamkeit und Konzentration
    AVWS-Kinder können beim Vorlesen einer Geschichte nicht ausreichend lange zuhören und schweifen desinteressiert ab. Alle betroffenen Kinder zeigen eine gestörte Konzentrationsfähigkeit.
  5. Die Analyse, Identifizierung und Unterscheidung von Klangmustern
    Die akustische Mustererkennung, bzw. die Phonem-Differenzierung, ist für die Kulturtechniken Lesen und Schreiben unerlässlich ; insbesondere beim heute üblichen
    lautierenden Schreiben ist eine exakte Lautdifferenzierung notwendig. Betroffene Kinder können beispielsweise die Worte „Kragen“ / „tragen“ , „Haus“ / „Maus“ etc. nicht
    auseinanderhalten. Oft sind sie nicht in der Lage, Laute in einem Wort zu lokalisieren.
  6. Die auditive Merkfähigkeit von Klangmustern
    Der Spracherwerb erfordert eine Speicherung von Klangmustern. Diese findet im Kurzzeit- bzw. im Langzeitgedächtnis statt (im Kurzzeitgedächtnis bis zu 20 Minuten, im
    Langzeitgedächtnis unbegrenzt). Kulturtechniken wie Schreiben, Rechnen, aber auch allgemeine Teilnahme am Unterricht, fordern die nachhaltige auditive Merkfähigkeit von Klangmustern als spezifische integrative Leistung des Grosshirns (Globalsystems).

Die Aufgabe der HNO-ÄrztInnen u Pädaudiologen ist es, zunächst das sog. periphere Gehör in Tonhör, – und einfachen Sprachhör- Tests genau zu prüfen, ergänzt durch Messung der Innenohrfunktion in der Registrierung der otoakustischen Emissionen . Dem folgen dann spezielle Sprachgehör-Verarbeitungstests und neuropsychologische Tests zur Beim Lesen und Schreibenlernen muss das Kind zunächst lernen, gehörte Wörter in Einzellaute zu zergliedern (z.B. Oma in 0-M-A) und diese Einzellaute dann den richtigen Buchstaben zuzuordnen. Foto: (c) Eastop, sxc.huAbklärung der zentralen Hörfunktion. Im Alltag basiert die Wahrnehmung nicht auf einzelnen Sinnesleistungen , sondern in der Empfindungen aus mehrerern Sinnessysteme (dem Hören, Sehen, Fühlen, Schmecken, Riechen und Gleichgewicht). Die Wahrnehmung fügt die Leistungen aller Sinne zu einem Gesamteindruck zusammen.

In der HNO-ärztlichen und Pädaudiologischen Praxis haben wir es somit oft mit unterschiedlichen, uneinheitlichen und äußerst komplexen Symptomen zu tun, die eine Zusammenarbeit mit Kinder-u. Jugendärzten, Kind-u. Jugendpsychiatern, Pädagogen und Psychologen erfordern. Diese Ärzte und Untersucher haben konkreten, dringenden Handlungsbedarf – und dies nicht nur wegen der geschätzten Häufigkeit der Störung von ca. 8 bis 12% eines Jahrgangs: die Symptome einer AVWS erschweren deutlich das schulische Fortkommen der betroffenen Kinder und damit ihre gesellschaftliche Integration.

3. AVWS und phonologische Bewusstheit

Die Beeinträchtigung der auditiven Wahrnehmung kann zu deutlichen Problemen bei der sogenannten phonologischen Bewusstheit führen. Diese Beeinträchtigung kann den Erwerb der Rechtschreibung empfindlich behindern. Unter phonologischer Bewusstheit versteht man das richtige, bewusste Hören und Verstehen der gesprochenen Sprache. Als „Gefühl“ für größere sprachliche Einheiten wie Wörter, Silben und Reime (= phonologische Bewusstheit im weiteren Sinne) lässt sie sich schon im Kindergartenalter beobachten. In der Schule zeigt sie sich in der grundlegenden Fähigkeit, vorgesprochene Wörter in ihre Lautbestandteile zu zerlegen (= phonologische Bewusstheit im engeren Sinne). Beide Bereiche phonologischer Bewusstheit können durch eine AVWS gestört sein, was zu Problemen des Rechtschreiberwerbs führen kann.

4. Fazit

Deswegen sollte im Zusammenhang mit einer Lese-/Rechtschreibtestung immer auch die auditive Verarbeitung und Wahrnehmung als spezielle Form der zentralen Hör- u. Sprachstörung des Kindes abgeklärt werden, um eventuell im Vorfeld der Manifestation behandeln zu können. Aber auch die allgemeine kindliche Entwicklung kann durch eine AVWS behindert werden, beispielsweise weil das Kind aufgrund der bestehenden Probleme in der Kurzzeitspeicherung nicht die seiner intellektuellen Begabung entsprechende Beschulung erfährt. Denn viele dieser Kinder haben in der Schule Lernprobleme, besonders beim Lesen- und Schreibenlernen, obwohl sie meist normal begabt sind und eigentlich den Lernstoff bewältigen müssten.
Bei dieser Art der zentralen Schwerhörigkeit (AVWS) handelt es sich um eine krankheitsbedingte und daher medizinisch relevante Entwicklungsstörung bestimmter Teilaspekte des Hörens und der sprachlichen Kommunikation. Als Ursache werden u.a. zeitlich zurückliegende Schalleitungsschwerhörigkeiten besonders im Säuglingsund Kleinkinderalter, sowie erbliche und/oder umgebungsbedingte Faktoren vermutet, die letztlich die Entwicklung bestimmter synaptischer u/o dendritischer Reifungen im Gehirn für auditive Verarbeitungs- und/oder Wahrnehmungsleistungen behindern oder verzögern können. In diesen Fällen sind nach genauer Prüfung durchaus Behandlungen nach den Heilmittelrichtlinen in Form von Logopädie und evtl. Ergotherapie angezeigt. Die Lese-u Rechtschreibstörung nur für sich alleine kann nicht zu Lasten der Krankenkasse behandelt werden sondern muss durch pädagogische , schulpsychologische uns soziale Massnahmen (ausserschulische Förderung n. Paragraph 35 a SGB VIII , Nachteilsausgleich In der Schule, behinderter Personenkreis nach Paragraph 39 BSHG) aufgefangen werden.